Foto von Josef Popper-Lynkeus

Josef Popper-Lynkeus, Philosoph und Techniker, geb. am 21. 2. 1838 in Kolin (Böhmen), gest. am 22. 12. 1921 in Wien. Popper-Lynkeus studierte an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag und am Polytechnischen Institut in Wien. Ab 1859 arbeitete er bei der Eisenbahn (Frachtdienst), ab 1862 war er in Wien als Schriftsteller, Privatgelehrter und Erfinder tätig. 1862 entwickelte er das Prinzip der elektrischen Kraftübertragung, fand jedoch zu seiner Zeit damit keine Anerkennung. 1867 erfand er eine neue Kesseleinlage für Dampfmaschinen, 1880 den Drehflügel, 1889 den Oberflächenkondensator, 1891 ein selbstventilierendes Gradierwerk. Popper-Lynkeus half Ernst Mach bei einigen seiner frühen psychophysischen Experimente und Arbeiten, woraus eine lebenslange Freundschaft erwuchs. Ab 1878 veröffentlichte er sozialethische Schriften, durch welche er außerordentlich großen Einfluß auf das soziale, politische und philosophische Denken seiner Zeit ausübte. An Elemente der Aufklärung anknüpfend, stellte er eine Ethik auf, welche sich auf radikalem Individualismus gründete und sich besonders mit den Grundlagen der sozialen Frage, des Strafrechtes, der Wehrpflicht und den ideologischen Rollen von Metaphysik und Religion auseinandersetzte. Für Popper-Lynkeus bedeutet das Individuum ein einziges unwiederholbares Etwas, das nicht aufhören will, in seiner Einmaligkeit zu sein. Er betont die Unmessbarkeit des Wertes des Individuums, indem er die Nichtexistenz als Maßstab nimmt, nach welchem alle intellektuellen und kulturellen Werte einer Zivilisation gegenüber dem eines Individuums verschwinden. Der Staat wird als soziales Geschöpf betrachtet, das niemals eine prinzipiell über dem Individuum stehende Macht sein sollte. Popper-Lynkeus lehnt daher auch sozialen Zwang, der die Grundrechte des Individuums kompromittiert, z. B. den erzwungenen Kriegsdienst, kategorisch ab. Die letzten Konsequenzen dieser Argumentation, die im Anarchismus münden, umgeht Popper-Lynkeus, indem er das soziale Ideal einer der Erhaltung des menschlichen Lebens gewidmeten solidarischen Gesetzes propagiert. Seine Sozialkritik gipfelt 1912 in seinem Konzept der "allgemeinen Nährpflicht" - einem sozialen Programm zur kostenlosen Sicherstellung eines Minimums an Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Behandlung für jedes Individuum. Dieses Minimum an Waren und Diensten sollte ohne Geldverkehr durch einen staatlichen Arbeitsdienst, an dem sich zu beteiligen alle Bürger verpflichtet wären, bereitgestellt werden. Popper-Lynkeus Sozialprogramm erregte internationales Interesse und führte auch zu Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus. Seine Phantasien eines Realisten (1898) beeinflußten Logik und Psychoanalyse.
Er veröffentlichte u. a. Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben (1878), Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung (1886), Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen (1910) und Selbstbiographie (1917).

Text: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 Online Edition, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Stand: 06.10.2009)     Text drucken
Foto: © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv

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